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Medizin & Gesellschaft

Die Pille hat Geburtstag

Ein weiter Weg mit vielen Opfern
veröffentlicht am 07.07.2025 von Redaktion krankenkasseninfo.de

Antibabypille als VerhütungsmethodeAntibabypille als Verhütungsmethode(c) getty Images / SeventyFour
Die Antibabypille, kurz „die Pille“, ist seit 65 Jahren ein Synonym für orale Kontrazeptiva, für synthetische hormonelle Ovulationshemmer. Erstmals konnten sich Frauen ohne Angst vor unerwünschter Schwangerschaft auf Sexualität einlassen. Diese revolutionäre Veränderung traf allerdings auf eine aus heutiger Sicht fast nicht mehr vorstellbare verklemmte Sexualmoral einer Gesellschaft, in der freie Sexualität als Bedrohung und Gefahr für die staatliche Ordnung galt.

 

2025-07-07T17:51:00+02:00

Wir schreiben das Jahr 1960. Fünfzehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird John F. Kennedy zum 35. Präsidenten der USA gewählt. Louis Armstrong singt „What a wonderful world“. Im März 1960 gehört der Kanton Genf zu den ersten, der der das Frauenstimmrecht in der Schweiz einführt, was für das ganze Land allerdings erst 1990 geschah.  „Psycho“ von Alfred Hitchcock kommt in die Kinos. Die Beatles treten an der Großen Freiheit in Hamburg auf. Muhammad Ali gewinnt in Rom die olympische Goldmedaille im Halbschwergewicht. Achtzehn afrikanische Kolonien erlangen in diesem Jahr die Unabhängigkeit. Unabhängigkeit. Und am 23. Juni 1960 erhielt die „Pille“ in den USA als „Enovid“ ihre offizielle Zulassung. Am 18. August kam sie auf den Markt, ein Jahr später unter dem Namen „Anovlar“ auch in Westdeutschland von der Schering AG.

Einführung nicht ohne Widerstände

Die Antibabypille, kurz „die Pille“, ist seitdem, seit 65 Jahren ein Synonym für orale Kontrazeptiva, für synthetische hormonelle Ovulationshemmer. Erstmals konnten sich Frauen ohne Angst vor unerwünschter Schwangerschaft auf Sexualität einlassen. Diese revolutionäre Veränderung traf allerdings auf eine aus heutiger Sicht fast nicht mehr vorstellbare verklemmte Sexualmoral einer Gesellschaft, in der freie Sexualität als Bedrohung und Gefahr für die staatliche Ordnung galt. Daher war auf dem ersten Beipackzettel der Pille nur ganz hinten und versteckt etwas von Schwangerschaftsverhütung zu lesen, die Pille wurde nur als Medikament gegen Menstruationsbeschwerden und starke Akne beworben. Besondere Aufregung und heftiger Widerstand ging von der katholischen Kirche aus, für die Sexualität ohne Fortpflanzung eine Sünde war und ist. Auch die deutsche Ärzteschaft trat noch 1964 in ihrer Ulmer Denkschrift staatstragend hervor: „Die strenge Rezeptpflicht der so genannten Antibabypille muss unter allen Umständen gewahrt werden, um dem Missbrauch zur weiteren Aufweichung unserer Ehe- und Familienordnung vorzubeugen.“ Anovlar durfte nur verheirateten Frauen verschrieben werden, die mindestens zwei Kinder hatten, und viele Ärzte verlangten damals sogar eine Einverständniserklärung des Ehemannes. Unter uns Medizinstudenten an der Uniklinik Frankfurt kursierten sogar noch Anfang der siebziger Jahre unter der Hand Namen von Gynäkologen, die ohne Nachfragen und heimlich Rezepte für die Pille ausstellten und sich der Gefahr einer berufspolitischen Ächtung aussetzten.

65 Jahre später ist das alles längst vergessen. Die Pille gehört zum Alltag. Unerwünschte Wirkungen der Pille wie Lustlosigkeit, Depression, Zwischenblutungen und ein erhöhtes Risiko für Thrombosen und Embolien habe dazu geführt, dass die Pille weltweit nur von circa 16 Prozent als Verhütungsmethode angewandt wird. Die Schering AG wurde 2006 von der Bayer AG übernommen, weswegen Bayer inzwischen mehr als zwei Milliarden Dollar an Klägerinnen zahlen musste, die durch Thrombosen und Lungenembolien schwer geschädigt worden waren.

Ein dunkles Kapitel   

Längst vergessen ist es, wie der teilweise grauenhafte Weg zur heutigen Normalität im Umgang mit der Pille war. Die Geschichte beginnt Ende der 1920-er Jahre mit dem Grazer Wissenschaftler Ludwig Haberlandt (1885-1932), der die Idee der hormonellen Verhütung als Erster niederschrieb, nachdem die Strukturformeln von Estrogen und Progesteron entschlüsselt worden waren. Haberlandt konnte in Tierversuchen den Eisprung manipulieren, wurde für diesen Tabubruch aber heftig kritisiert. Er beging 1932 Suizid. Den Nationalsozialisten waren solche Tabus aber völlig gleichgültig. Sie suchten nach einer Methode, um die Fortpflanzung unerwünschter Bevölkerungsgruppen zu manipulieren bzw. zu unterbinden, und sie fanden in dem Kieler Gynäkologen Carl Clauberg (1989-1957) den passenden Vollstrecker. Dieser begann als Günstling Heinrich Himmlers 1942 im Block 10 des Konzentrationslagers Auschwitz mit der Zwangssterilisation von hunderten weiblichen KZ-Häftlingen und arbeitete mit unvorstellbar brutalen Menschenversuchen an hormonellen Verhütungsmethoden. Die eingesetzten Präparate erhielt er von der Firma Schering. Die Frauen starben entweder schon während der Menschenversuche oder wurden danach für Claubergs Sektionen ermordet. Clauberg gilt damit als einer der „Väter“ der Antibabypille.

Auf der Flucht vor den Nazis gelangte der Chemiker Carl Djerassi (1923-2015) nach Mexiko und setzte dort die haberlandtschen Versuche fort, nachdem es ihm gelungen war, Gestagen aus der mexikanischen Yamswurzel zu synthetisieren. Damit war er unabhängig von den teuren Gestagenen von Schering. Gleichzeitig forschte Gregory Pincus (1903-1967) in den USA über Sexualhormone. Für die Pharmafirma Searle entwickelte Pincus Gestagene, und mit Hilfe einer reichen Amerikanerin gelang es ihm, die nötigen Hormone so weit zu entwickeln, dass sie für klinische Studien verwendet werden konnten. Pincus gilt auch als einer der Väter der Antibabypille. Auch er arbeitete mit Menschenversuchen, indem er diese Pille unter Probandinnen in den Armenvierteln von Puerto Rico testete. Die anfangs extrem hohen Dosen verursachten Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwindelattacken, vieles davon irreversibel. Wer die Pille einnimmt, weiß von alledem nichts. Aber wenigstens einmal, am 65. Geburtstag, sollten die Verbrechen und Menschenopfer erwähnt werden, mit der diese Revolution der sexuellen Freiheit erkauft worden ist.

Quelle: Dr. Bernd Hontschik - mit freundlicher Genehmigung des Autors

 

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