"Die öffentliche Wahrnehmung hat leider getrogen"
SBK-Chef Unterhuber über die falschen Versprechen einer 100%-igen Datenhoheit
Herr Dr. Unterhuber, Millionen gesetzlich Versicherter haben dieser Tage erstmals Zugang zu einer digitalen Patienten-App. Warum sehen Sie aktuell sowohl den Datenschutz als auch die Datenhoheit der Patienten in Gefahr?
Ich sehe vor allem, dass die Datenhoheit der Patienten in Zweifel gezogen wird. Es gibt einfach sehr viele interessengeleitete Gruppen, die gerne Zugriff auf die Daten hätten oder sie gerne weiterhin hinter verschlossenen Türen wissen möchten. Manche Leistungserbringer raten zum Beispiel davon ab, dass ihre Patienten Zugriff auf die digitalen Patientenakten bekommen. Als Gründe nennen sie den angeblichen Mehraufwand bei der Erfassung oder Verständnisprobleme.
"Lasst doch bitte jeden Einzelnen selbst entscheiden, was er mit seinen Daten anfangen möchte."
Auch Datenschutzexperten sind naturgemäß eher gegen Projekte wie die Patientenakte. Doch ich muss sagen: Lasst doch bitte jeden Einzelnen selbst entscheiden, was er mit seinen Daten anfangen möchte. Die neuen digitalen Möglichkeiten aus datenschutzrechtlichen Bedenken nicht anzubieten, halte ich für falsch. Denn das hieße, sich jedem Fortschritt zu verschließen und ein enormes Potenzial zu verschenken.
Um das Projekt 'digitale Vernetzung' wurde jahrzehntelang politisch gerungen. Alle Akteure betonten dabei immer wieder, dass die Patienten selbst darüber entscheiden sollen können, welche Daten gespeichert werden und welche nicht. Kann dieser Konsens denn nun so einfach gekippt werden?
Die öffentliche Wahrnehmung hat leider getrogen. Zwar heißt es immer, der Versicherte sei Herr seiner Daten, aber das stimmte bisher einfach nicht. Es gibt im Gesetz viele Stellen, in denen den Menschen Vorschriften gemacht werden, welche Daten sie sehen oder weitergeben dürfen und welche nicht. Das ist vielen gar nicht bewusst und unsere Kunden verstehen dann nicht, warum wir sie in einigen Fällen nicht proaktiv beraten.
"Es gibt so viele unterschiedliche Interessen und starke Lobbygruppen, dass diese Regelung fragil ist."
Nehmen wir ein Beispiel: Ein Mann kommt nach einem Autounfall ins Krankenhaus, liegt im Koma. Seine Frau ist plötzlich mit den drei kleinen Kindern allein. Bisher dürfen wir als Krankenkasse die uns vorliegenden medizinischen Informationen nicht nutzen, um der Familie von uns aus Unterstützungsangebote zu machen und sie auf passende Versorgungsangebote hinzuweisen. Mit dem 2. DSGVO-Anpassungsgesetz werden hier Gott sei Dank Möglichkeiten geschaffen. Die Versicherten dürfen uns nach Inkrafttreten des Gesetzes ihre Erlaubnis zur Datennutzung in einem gewissen Rahmen geben. Die hitzige Diskussion um das Gesetzesvorhaben hat aber gezeigt: Es gibt so viele unterschiedliche Interessen und starke Lobbygruppen, dass diese Regelung fragil ist. Bei jeder Formulierung, jedem neuen Gesetz, vor allem zu digitalen Angeboten, wird die Fragestellung wieder zu Kontroversen führen.
Welche rechtlichen und politischen Möglichkeiten sehen Sie für die Krankenkassen auf der einen und auch die Versicherten auf der anderen Seite, sich gegen die datenrechtliche Bevormundung durch den Gesetzgeber zu verwahren?
Genau hier liegt ein Problem. Die Betroffenen haben leider keine so starke Interessenvertretung wie zum Beispiel die Leistungserbringer. Hier sehen wir uns als Anwalt unserer Versicherten.
"Wir werden bei jedem Gesetzesvorhaben alles dafür tun, dass das Recht des Einzelnen, über seine Daten zu verfügen, gewahrt bleibt."
Wir müssen das Thema immer wieder auf die Agenda setzen. Wir werden bei jedem Gesetzesvorhaben alles dafür tun, dass das Recht des Einzelnen, über seine Daten zu verfügen, gewahrt bleibt. Wir gehen aktiv auf die Politik zu und informieren unsere Versicherten über ihre Rechte.
Zehn Betriebskrankenkassen haben sich bislang für eine Kooperation mit dem Tech-Startup vivy entschieden. Welche digitale Vernetzungslösung wird für die Versicherten der SBK avisiert?
Auch wir glauben, dass vivy für die Zukunft erhebliches Potenzial hat und unseren Versicherten Nutzen bringen kann. Schließlich waren wir am Auswahlprozess von vivy beteiligt. Wir haben uns jedoch bewusst dazu entschieden, noch nicht bei der ersten Welle mit dabei zu sein, sondern die nächsten Monate für Verbesserungen der Lösung zu nutzen. Wir möchten unseren Kunden schließlich das bestmögliche und sicherste Produkt bieten und zwar mit dem Nutzen und der Servicequalität, die sie von uns gewohnt sind.
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"Ich bin nicht der Einzige der langsam ungeduldig wird"
Die umfassende digitale Vernetzung mit Hilfe der Elektronischen Gesundheitskarte lässt weiter auf sich warten. Die AOK ist wie die TK mittlerweile dabei, eine eigene Lösung zu entwickeln. -
Welche Vision steckt hinter Vivy?
Die digitale Vernetzung zwischen Arzt, Patient, Labor, Klinik und Krankenkasse steht in den Startlöchern und wird das Gesundheitswesen verändern. IT-Gründer Christian Rebernik hat mit Vivy eine neue digitale Plattform dafür geschaffen, unterstützt unter anderem von DAK, Bahn BKK und IKK Classic. -
Ich sehe die digitale Selbstbestimmung als gefährdet an.
Immer wieder betonen Politik, Krankenkassen und IT-Unternehmen, dass Datenschutz und Datenhoheit der Versicherten an erster Stelle stehen, wenn im Gesundheitswesen alle medizinischen Daten miteinander vernetzt werden. Dr. Bernhard Scheffold vom Verein Patientenrechte-Datenschutz e.V. hält das für eine Illusion.